
Die Gegenposition (frei zusammengefasst): Man sollte im Internet seinen realen Namen verwenden. Schließlich stellt man sich im realen Leben auch mit seinem echten Namen vor. Man muss eben aufpassen, was für Dinge man von sich preisgibt, und Persönliches brüllt man ja auch nicht in einem voll besetzten Stadion mit einem Megaphon heraus.
Auf manche Dinge trifft das ja auch zu. Ob ich gestern Sex hatte, und wie gut der war, geht nur mich und meinen Freund was an, und das muss ich auch nicht anonym irgendwo herausposaunen.
Andererseits gibt es aber auch Dinge, die auch für andere Leute interessant sind, von denen ich aber nicht möchte, dass sie jeder mit meinem echten Namen verbinden kann. Erfahrungen und Hilfestellungen zur Krankheit X z.B. können Betroffenen eventuell helfen, trotzdem geht das meinen Arbeitgeber und meine Krankenkasse nichts an. Gleiches gilt für politische und volkswirtschaftliche Meinungen. Auch wenn es bei uns um Demokratie und Meinungsfreiheit zur Zeit recht gut bestellt ist, muss mein zukünftiger Arbeitgeber ja nicht unbedingt wissen (vielleicht würde er sonst lieber jemanden mit konformerer Meinung einstellen). Und was ist erst mit Ländern, in denen Meinungsfreiheit kaum etwas gilt, die Presse zensiert wird, Regimegegner ins Gefängnis kommen? Dort ist das Internet oft die einzige Möglichkeit, viele Menschen zu erreichen. (Und eventuell haben wir das Problem auch eines Tages, wer weiß das schon so genau?)
Im realen Leben muss ich eben nicht immer meinen Namen preisgeben, um die Öffentlichkeit zu erreichen. Wenn ein Arzt ein Buch über eine Krankheit schreibt und meine Leidensgeschichte aufnimmt, muss/wird er ja meinen Namen auch nicht dazuschreiben. Wozu auch? Wenn ich an einer öffentlichen Podiumsdiskussion aus dem Publikum heraus aktiv teilnehme, muss ich meinen Namen nicht preisgeben. Wenn Zeitungen über private Personen berichten, wird der Name oft durch einen falschen ersetzt und Gesichter auf Fotos unkenntlich gemacht. Überhaupt zählt der Informantenschutz im Journalismus sehr viel, sogar gegenüber Polizei und Gericht. Anders können Pressefreiheit und Demokratie nicht funktionieren.
Ein anderer Aspekt: künstlerische Tätigkeiten. Auch im realen Leben ist es gebräuchlich, Pseudonyme zu verwenden (Lewis Carroll, Novalis, Agatha Christie, Stephen King, ...), das Urheberrecht räumt einem das Recht dazu ein. Kaum ein Groschenroman z.B. wir unter dem realen Namen des Autors veröffentlicht, und dennoch haben viele Leute Spaß daran, sie zu lesen.
Natürlich verleitet die Anonymität im Internet dazu, Schwachsinn zu verbreiten, das Problem sehe ich durchaus. Die Diskussionen zu Golem- und Heise-Artikel z.B. zeigen das immer wieder, vom Spam will ich gar nicht erst anfangen. Aber das nehme ich in Kauf dafür, dass sonst viele von den Dingen, die ich im Internet gerne lese, anders gar nicht erst veröffentlicht würden.
Ui, ist ganz schön lang geworden...
